Als ich am 7. November meinen Freund Hubert besuchte, wusste ich noch nicht, dass es vermutlich die letzte Motorradfahrt des Jahres sein würde. Eigenlich konnte man bis dahin, falls es der Beruf erlaubte, täglich fahren. Der Herbst zeigte sich mit Wetterbeständigkeit, angenehmen Temperaturen und Farbenpracht von seiner besten Seite. Das hat sich in den letzten Tagen dramatisch geändert. Die bunten Wälder kann man im dichten Nebel kaum mehr sehen, und die Temperaturen sanken in den Minusbereich. Nasse Flecke auf der Straße werden zu eisigen Fallen. Es scheint, als wäre der Winter mit riesigen Schritten im Anmarsch. So wird mir diese Fahrt als schöner Abschluß der diesjährigen Saison in Erinnerung bleiben.
„Vierundachtzig Kilometer in dreieinhalb Stunden dürfte neuer Rekord sein“, dachte ich beim Blick auf die Kirchturmuhr lachend, streckte die Beine aus und zündete mir eine Zigarette an. „Darf´s noch etwas sein?“, frug die Kellnerin, während sie die leere Tasse und den Tortenteller wegräumte. „Ja. Bring mir noch einen Verlängerten“. „Kommt sofort“.
Gleich neben der Eingangstür, wo ein Alu-Tisch mit ein paar Sessel stand, war es wunderbar warm. Genau der richtige Platz für eine Kaffeepause. Meine blaue Elise stand direkt vor mir. Überhaupt war es wesentlich wärmer geworden, als ich bei der Abfahrt gehofft hatte. Letztes Jahr lag um diese Zeit schon Schnee, heuer blühen sogar noch ein paar Felder, was immer das auch sein mag.
„Setzen wir uns doch einfach wieder einmal zusammen und tratschen ein wenig“, hatten wir, Hubert und ich, beim letzten Telefongespräch ausgemacht. Kennengelernt haben wir uns durch ein Oldtimer-Rennen vor ein paar Jahren, seitdem halten wir Kontakt und treffen uns immer wieder zu einem Schwätzchen, bei dem die Zeit unglaublich schnell vergeht. Manchmal zu schnell. Es wurde auch schon fast Mitternacht in Huberts Garage. Motorräder verbinden uns, wenn auch auf recht unterschiedliche Weise, und über diese Fahrzeuge lässt sich vortrefflich tratschen.
Vor allem über alte englische Motorräder, von denen ich allerdings nicht viel Ahnung hab, oder über Italiener, Ducati oder MV-Agusta, von denen ich wenig Ahnung hab, reden wir gerne. Denen gilt Huberts Liebe, während ich Reiskocherfahrer aus Passion und Überzeugung bin. Ich denke, jeder wurde von seiner Jugend geprägt, von seinen ersten Erlebnissen und Erfahrungen mit Motorrädern. Ich hab aus unseren Gesprächen viel gelernt und kann inzwischen, an einem guten Tag zumindest, eine Norton International von einer Manx unterscheiden. Die Chancen, die Richtige zu erwischen stehen ja immerhin jedesmal 50:50. Apropo fünfzig. Eine Matchless G50 erkenne ich auch schon auf Anhieb! Das steht auf einem Deckel drauf, hab ich gelernt. Ja, ja. Ich weiß! „Banause!“ Aber wie man sieht, der Lernprozess ist gestartet und hält an.
Normal setz ich mich einfach ins Auto, fahr auf die Autobahn und bin in dreißig Minuten in Linz. Wenn dort nicht die meisten Ampeln rot sind, die engen Straßen verstopft, was leider meistens der Fall ist, und ich mich nicht verfahre, dann bin ich in null koma nix am Ziel. Sonst dauert´s auch länger. Diesmal hatte ich mir etwas anderes vorgenommen. Spontan, in aller Früh. „Wieso soll ich erst zu Mittag mit dem Auto fahren?“, fragte ich mich. „Ich kann doch diesen schönen Herbsttag zur Gänze nutzen und gleich fahren, und zwar mit dem Motorrad!“ Aber sicher nicht auf der Autobahn, ergo mußte ich mir etwas anderes einfallen lassen.
Also eine Karte genommen, eine Route, die ich noch nie fuhr ausgewählt, dann zog ich die Belstaff-Jacke über einen warmen Pulli und die schweren Tourenstiefel an, stopfte die Jeans hinein, krallte mir Helm, Handschuhe, Schal und Schlüssel und stapfte in die Garage. Dann schob ich die XJR hinaus, schloss mit einem letzten Blick auf meine zweirädrigen Lieblinge das Tor und zündete den Vierzylinder. „Das ist der Klang, aus dem „meine“ Träume sind!“, dachte ich, stieg auf und fuhr los.
Zuerst zum Bachlerhof nach Abetzdorf, einen Kaffee trinken. Wie immer. Dabei konnte ich mir gleich die Route laut Karte näher einprägen. Dann ging´s in Stritzelhof bei den Pferdekoppeln vorbei zum Abzweig nach Biberbach und weiter nach Seitenstetten. In Seitenstetten beim Stift (das ich mir zu meiner Schande, muß ich gestehen, noch nie angeschaut hab) links den Hügel hinauf, ein Stück Richtung Waidhofen, dann rechts nach St.Michael am Bruckbach und über verschlungene Wege hoch nach Kürnberg, das mir manchmal auch, wenn´s mir nicht anders einfällt, nur als Kühberg einfällt, um mich dann, uuups, schnell zu korrigieren. „Kürnberg heißt das Nest. KÜRNBERG!!“
Was an dieser Strecke besonders ist? Ist doch eigentlich ein Umweg! Die Aussicht. Die Straße nach Kürnberg und weiter über Behamberg zum Wachtberg vor Steyr führt großteils am Kamm einer Hügelkette in einer Höhe von ungefähr 500m dahin und bietet in jede Richtung eine wunderbare Aussicht. An klaren Tagen sieht man nördlich weit über die Donau hinaus in die bömischen Wälder, westlich ins Tote Gebirge, östlich wird die Sichtweite durch die Hügelgruppen in der Gegend um St.Pölten begrenzt, und im Süden versperren der Ötscher und die Hochschwabgruppe den Blick tiefer in die Steiermarkt. Immer wieder treibt mich diese Aussicht da hinauf, und wenn im Herbst, am frühen Morgen, Nebel in den Tälern liegt, dann scheint es einem manchmal, als stünde man am Ufer des Meeres. Na, vielleicht muß man auch ein hoffnungsloser Romantiker sein, um das so zu sehen. Dann passt´s aber auch wieder mit der Liebe zu den alten Motorrädern zusammen. Nicht wahr?
Ich war richtig gemütlich unterwegs. So gemütlich, dass ich sogar Zeit fand, in Steyr beim Busbahnhof nach den Steyr-Werken die schönen Blick auf die Altstadt von Steyr zu genießen. Daraufhin zog es mich natürlich auch sofort rein in die Altstadt. Mit dem Motorrad ideal, mit dem Auto weniger, weil kaum Parkplätze vor Ort. Der größte Teil ist nämlich Fußgängerzone. „Wie oft bin ich hier schon gewesen?“, fragte ich mich. Fast meine gesamte Bergliteratur stammt aus Steyr, ein paar hundert Bände. Einmal nahm ich gleich eine große Schachtel voll Bücher auf einmal mit aus dem Archivar der Buchhandlung – „Der Bergsteiger“ aus den 20er und 30er Jahren des letzten Jahrtausends, als einige Teile der Alpen noch unbestiegen und ein Abenteuer waren. Heute verstopfen an schönen Tagen Bergsteiger die Zugänge zu den Alpengipfel ja genau so wie Motorradfahrer die Straßen der Alpenpässe.
„Kaffeepaus, oder nicht Kaffeepause, war nun die Frage. Da die „Schanigarten“ aber schon alle weggeräumt waren, entschied ich mich, nach ein paar Fotos weiterzufahren. Ich hatte keine Lust, mich in ein Kaffeehaus zu setzen.
Von Steyr bis zum Abzweig nach Sirning muß man einige Kilometer weit der langweiligen B122 folgen, die außer meistens dichtem Verkehr nichts zu bieten hat. Alternative ist mir leider keine bekannt. Dafür war die Strecke über Thanstetten und Schiedlberg nach Nettingsdorf, lauter kleine Nester, nicht nur motorradfahrerisches Neuland für mich, sondern wirklich schön. Immer geht´s auf schmaler Straße hügelig zwischen Feldern dahin. Hier, in dieser Gegend war ich überhaupt noch nie. Auf die Idee, so nach Linz zu fahren, war ich ja noch nie gekommen. Dann genoss ich die Fahrt der Donau entgegen und ließ mir bei offenem Visier einfach den Wind um die Nase wehen.
Wenn ich so unbeschwert dahinfahre, frag ich mich manchmal, ob mir klar ist, wie gut es mir geht? Schätze ich, dass ich mich einfach auf´s Motorrad setzen kann, um ein wenig spazieren zu fahren? Ist ja nicht so selbstverständlich, wie´s scheint. Anderswo müssen Menschen meilenweit um einen Eimer Trinkwasser gehen, wissen nicht, was sie am nächsten Tag essen oder wo sie schlafen sollen. Leute schmoren unschuldig im Knast, werden gefoltert und hingerichtet. Diktator bereichern sich hemmungslos, treten Menschenrechte mit Füßen. Religiöse Fanatiker hetzten Anhänger auf, sich mit anderen im Namen ihres Gottes in die Luft zu sprengen. Ja, ich schätze, dass ich einfach aufs Motorrad steigen kann, um damit unbeschwert durch die Gegend zu fahren. Ich schätze es, in einem Land zu leben, in einer Region zu leben, in der Frieden und Freiheit herrschen, und ich finde es schade, dass es nicht überall so ist. Ich kann aber nichts beitragen, um etwas zu ändern. Schon gar nichts kann ich beitragen, indem ich nicht mehr Motorrad fahre.
Vielleicht wäre die Welt schneller noch besser, wenn sich die Osama, Saddam, Josef und Adolf dieser Welt gemeinsam auf Motorräder schwingen und durch ihre Länder fahren? Wäre doch einmal ganz etwas anderes, statt unter einer fanatischen und/oder fundamentalistischen Käseglocke zu leben, ständig dumpfe Gedanken brütend. Vielleicht könnte Motorrad fahren Wunder wirken? Ich würde mich als Tourguide hergeben. Komisch, mir fällt kein Diktator ein, der Motorrad fährt oder fuhr. Hitler am Motorrad? Welch eine Vorstellung! Oskar Schindler fuhr Motorrad.
Äh, wo war ich vorhin stehengeblieben? Ach ja, in einem kleinen Nest südlich der Donau war ich stehengeblieben. Gleich am Ortsausgang war rechts ein kleinen Parkplatz an einer Birkenallee. „Jetzt kann´s nicht mehr all zu weit sein zur Donau“, dachte ich und schlug die Karte auf. Was aber noch wichtiger war, ich durfte auf keinen Fall die Fähre übersehen, die nach Ottensheim fährt. Die war mein nächstes Ziel. Auf diese Fähre war ich durch Zufall gekommen. Wie schon erwähnt, wollte ich einmal ganz anders nach Linz fahren. Bei der Suche, wo ich dann die Donau überqueren könnte, fand ich sie als Alternative.
Offiziell heißt es hier ja nicht Rollfähre, sondern „Drahtseilbrücke Ottensheim„. Wobei ich mir unter einer Drahtseilbrücke etwas ganz anderes vorstelle. Diese Überfuhr wurde schon, man lese und staune, am 2. Juli 1871 mit einem großen Volksfest eröffnet. Das heute die Donau querende Fährschiff wurde am 25. April 1964 in Dienst gestellt und ist somit 4 Jahre jünger als ich. Der Preis für die Überfahrt mit einem Motorrad beträgt laut Liste €3.70
„Oje, das wird nichts“, meinte der Mann, der die Fahrzeuge einweist, die Schranke bedient und den Fahrpreis kassiert, als wir schon ganz nah an der Anlegestelle des anderen Ufers waren. Mit etwas mulmigem Gefühl schaute ich zur am Hauptständer aufgebockten XJR. „Hoffentlich wird das jetzt kein zu großer Rammstoß, damit sie nicht umfällt!“, dachte ich besorgt. „Zurück!“, rief er zum Steuermann hoch. Dieser kannte aber scheinbar seine Fähre und seinen Job besser, als sich das sein Kollege vorstellte. Fast sah es tatsächlich so aus, als würden wir die Rampe mit einem Abweisbügel rammen. Aber nur fast! Haarscharf drehte sich das große Gefährt im richtigen Augenblick in die richtige Richtung, und butterweich legten wir am Steg an. Das war Präzisionsarbeit. Alle Achtung! „Pfüat Gott“, verabschiedete ich mich, dann rollte ich zur Kaffeepause nach Ottensheim.
„Zahlen bitte!“ Ich machte mich wieder auf die Socken. „Ein Stück noch fahren, dann bin ich beim Hubert“.
Nach ein paar netten Plauderstündchen fragte ich mich, ob es nur mir so dunkel vorkommt, oder ob es tatsächlich schon so spät wäre? Kurz nach 16 Uhr! „Das gibts ja nicht!“, dachte ich. „Hubert, ich werd´ jetzt fahren. Es wird finster, und da wird´s auch gleich saukalt.“ „Ja, ich weiß. Wärst du mit dem Auto gekommen, könnten wir noch sitzenbleiben“, meinte Hubert. Hätte ich gerne getan, aber mit dem Motorrad fahr ich nicht gerne im dunkeln. Vor allem nicht jetzt im Herbst, wenn überall Dreck auf der Straße liegt. Noch dazu würde jetzt, um diese Zeit, viel Verkehr sein, weil viele von der Arbeit heimfahren. Dann übersieht mich einer, drängt mich einer ab, ich greif in die Eisen, rutsch auf Dreck aus und flieg auf die Fresse. Lieber nicht. Einmal im Jahr reicht vollkommen. „Servus, und komm gut Heim“, meinte Hubert noch, klopfte mir auf die Schulter, dann fuhr ich los.
Sehr rasch wurde es richtig finster, nur der fast volle Mond und der Scheinwerfer verhinderten völlige Dunkelheit. Unglaublich, wie mitten in der Nacht! Ich kämpfte mich durch die engen, verstopften Straßen von Linz, verfuhr mich wieder einmal über diese blöde, vor allem über die falsche Donaubrücke, mußte daher, ohne Autobahnpikerl, auf die Stadtautobahn, um die Donau nochmals zu queren, und fand dann problemlos den Weg über Mauthausen und Perg nach Grein, wo ich die Donau an diesem Tag zum vierten Mal überquerte. Kurz vor 18 Uhr war ich wieder in Amstetten.