Seit der Mensch mit Technik umgeht, war es offenbar auch sein Wunsch, irgendwie die Zeit zu messen. Das war im Reich der Mitte nicht anders, als im Rest der Welt. Erste technische Uhren, sogenannte Wasserauslauf-Uhren, gehen in China etwa (so Spekulationen) auf die Zeit bis 2000 vor Christus zurück, also etwa in die Zeit der Shang-Dynastie. Wasseruhren aller möglicher Konstruktionen wurden über die Jahrhunderte, fast möchte man sagen, über Jahrtausende hinweg, ausprobiert, aber irgendwo war immer ein Hacken. Bis zu mechanischen Uhren sollte es noch eine ganze Weile dauern. Selbst im Mittelalter musste man sich noch mit Wasser-, Sonnen- oder Kerzenuhren begnügen. Mechanische Uhren kamen erst nach der Erfindung der Hemmung langsam zum Vorschein, die schon zuvor bekannten Getriebe waren noch frei durchlaufend. Im 11. Jahrhundert finden mechanische Uhren immer wieder Erwähnung, was darauf hindeutet, dass sie weithin bekannt waren. In einem Schreiben Dante Alighieries aus dem 14. Jahrhundert findet sich erstmals die Erwähnung einer Uhr mit Stundenglockenwerk. Wir reden hier von Turmuhren und dergleichen. Armbanduhren waren unbekannt, ja unvorstellbar. Drei Bilder: Armbanduhr Tianjin mit ST5 Werk.
Erste Taschenuhren soll es etwa Mitte des 15. Jahrhunderts gegeben haben, 1810 baute Abraham Louis Breguet im Auftrag der Königin von Neapel die erste Armbanduhr der Welt und war damit der erste Schweizer Hersteller von Armbanduhren. Um die Wende zum 20. Jahrhundert wurde es offenbar Mode, kleine Taschenuhren an Ketten ums Handgelenk zu tragen. Schließlich erforderten die Umstände der Kriege eine Abkehr von den Taschenuhren. Man trug die Uhr am Handgelenk. Seit der Mitte des 16. Jahrhunderts ist die Herstellung von Uhren eine Schweizer Spezialität. Manche meinten, nur die Schweizer seien in der Lage, eine Uhr herzustellen. Manch einer scheint sogar heute noch der Meinung zu sein, nur die Schweizer, bestenfalls noch Deutsche, hätten das Recht, Uhren zu bauen. So überheblich dachten dereinst auch britische und deutsche Motorradhersteller. Heute rangieren diese mehr oder weniger unter “ferner liefen…”. In den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts setzten sich dann in einem fernen Land ein paar kleine, gelbe Männchen bei einer Schale Reis zusammen und fragten sich, ob sie das nicht auch könnten, eine Uhr zu bauen?
Im Jänner 1955 gab die chinesische Regierung den Auftrag, im Norden Chinas eine Uhrenfabrik zu errichten. Als Standpunkt wurde Tianjin, eine Stadt südöstlich Pekings, ausgewählt. Die Legende erzählt, dass sich vier Mann, ausgestattet mit einem Budget von 100 Rinmimbi, in einem kleinen Raum, mit einfachen Werkzeugen ausgerüstet, zusammensetzten, um eine Armbanduhr nach Schweizer Vorbild zu bauen. 100 Stunden werkten Jiang Zhengying, Sun Wenjin, Wang Cimin und Zhang Shuwen, um die einzelnen Bauteile zusammenzufügen. Am 24. März 1955 war es so weit. Um 17:45 Uhr zogen sie erstmals das eben fertiggestellte Uhrwerk auf, und der Sekundenzeiger der ersten in China gefertigten Uhr, Wu Xing genannt, begann sich zu bewegen.
“Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute”, könnte man sich jetzt denken. Ich finde diese Geschichte aber schön. Nicht nur erfährt man hier die Namen der vier tüchtigen Arbeiter und den Tag, an dem sie ihr Werk vollbrachten, man erfährt auch die genaue Uhrzeit, zu der sich das erste chinesische Uhrwerk zu drehen begann. Wie auch immer. Jedenfalls kann man nirgends nachlesen, wann sich der erste Motor von Honda, Kawasaki, Suzuki oder Yamaha zu drehen begann. Oder gar von KTM. Wäre doch schön zu lesen, dass sich der Hans, der Sepp und der Herbert in einer Hütte bei Mattighofen zusammensetzten, um den ersten Motor für KTM zu bauen, der am Freitag um 15:45 Uhr erstmals seine knatternden Geräusche von sich gab. Nach 16 Uhr wäre das ja nicht mehr möglich gewesen. Feierabend. Wochenende. Arbeitszeitgesetz. Die Gewerkschaft. Man kennt das ja. Geht nicht. “Furschrift is Furschrift”. Und darum gibt es in Österreich keine so schönen Firmengeschichten wie in China.
Damals, an diesem 24. März 1955 ahnte niemand, was diese Männer in Bewegung gesetzt hatten. Es war nicht nur ein Uhrwerk. Es war ein Imperium. 1956 investierte China 9 Millionen RMB in die neue Uhrenfabrik in Tianjin, es wurden 24 000 Uhren produziert. Am 23. März 1957 wurde die Produktion einer neuen “Wu Yi” Uhrenserie gestartet, 1958 die Firma als “Tianjin Wu Yi Uhrenfabrik” etabliert. 1966 startete eine neue Ära. Mit dem ST5 Uhrwerk in einer “Dong Feng”, Ostwind, genannten Uhr brachte die Tianjin Uhrenfabrik die erste komplett in China konstruierte und gebaute Uhr auf den Markt. Dieses Uhrwerk war nicht nur nach damaligen Gesichtspunkten modern, es ging auch überaus genau und ist noch heute ein begehrtes Sammlerobjekt, obwohl es vermutlich zu Millionen gebaut wurde. Die in späteren Varianten per Hand angefertigten Streifenmuster haben sicher ihren Teil dazu beigetragen, denn dadurch gibt es praktisch keine zwei gleichartig verzierten Uhrwerke. Das ST5 ist nicht nur schön, sondern auch nach heutigen Gesichtspunkten eine Präzisionsmaschine.
DONGFENG mit unverziertem ST5 Uhrwerk.
Seiner außerordentlichen Präzision verdankte dieses Uhrwerk auch das Überleben, denn nachdem die chinesische Regierung beschlossen hatte, ein Standartuhrwerk für alle Uhren einzuführen, wurde dem ST5 der Tianjin Uhrenfabrik eine Sondergenehmigung erteilt, um es weiter produzieren zu dürfen. Diese Ehre erfuhren nur wenige Uhrwerke. China war zu dieser Zeit so eine Art kommunistisches Land. Chinesischer Kommunismus, wohlgemerkt. In China hatte immer die Landwirtschaft den Vorrang. Mao und der Mao-Kommunismus waren durch die Bauern an die Macht gekommen. Erst der große Sprung vorwärts sollte China in eine moderne Zeit mit Schwer- und Leichtindustrie führen, führte aber gradewegs an den Rand eines selbstmörderischen Abgrundes.
Neu aufgelegte Dongfeng mit verziertem ST5A Uhrwerk.
1973 wurde beschlossen, Uhren auch zu exportieren. Devisen waren Mangelware. Der Name Dong Feng wäre da allerdings eher hinderlich gewesen. Ostwind würde man im Westen als eher provokant empfunden haben ala “Der kommunistische Wind aus dem Osten wird euch alle hinwegfegen!” Das war der chinesischen Regierung offenbar sehr bewusst, und darum änderte man den Namen. Aus dem Ostwind wurde die politisch unverfänglichere Möwe, die sich majestätisch durch die Lüfte schwingt. Seagull, oder Sea-Gull, wurde geboren. Aber auch mit dem neuen Namen wurden chinesische Uhren außerhalb Chinas kein Erfolg. Noch nicht. Die Zeit war noch nicht reif dafür.
Sea-Gull mit verziertem Uhrwerk und Datum
Nach dem Tod Maos übernahm Deng Xiaoping die Macht, und mit ihm kam frischer Wind in die chinesische Politik. Er führte das Land aus dem abgeschotteten Personenkult Maos in eine neue Zeit und öffnete China auf eine Art, wie das zu Maos Zeiten unvorstellbar war. Dengs Änderungen in Politik und Wirtschaft veränderte den Lauf der Chinesischen- wie der Weltgeschichte genau so stark, wie Gorbatschows Politik von Glasnost und Perestroika die Sowjetunion und deren Einflussbereich veränderte. Ein Riese erwachte zum Leben.
Sea-Gull M182SK Automatik skelettiert.
Mehr Schmuckstück als Uhr, weil nicht ganz einfach abzulesen. Aber man kann dem Werk schön beim Werkeln zuschauen.
1992 wurde die Tianjin Sea-Gull Corporation gegründet, 2000 ging die Sea_Gull Gruppe an die Börse. Heute erzeugt Sea-Gull nicht nur komplexe mechanische Uhrwerke, sondern produziert jährlich rund ein drittel aller auf der Welt erzeugten Uhrwerke. Sea-Gull produziert mit modernsten Produktionsmethoden und Maschinen und steht heute für Qualität und Präzision. Meistens zumindest. Eine gewisse Schludrigkeit punkto Qualitätskontrolle soll man den Chinesen auch heute noch nicht absprechen können, hört und liest man. Andererseits hört und liest man aber auch, dass selbst aus dem Hause nobler westlicher Uhrenschmieden Produkte entfleuchen, die man am besten vor der Auslieferung ausgesondert hätte. Wo Menschen werkeln, passieren Fehler. Auch wenn manche das nicht wahrhaben wollen. Und was manche auch nicht wahrhaben wollen ist, dass nicht nur die Schweizer gute Uhren bauen können. Schauen wir einmal, wie das in zwanzig Jahren ausschaut. Falls es die Schweizer Uhrenindustrie dann noch gibt. Die Chinesen haben 99 Jahre lang gewartet, bis Hong Kong wieder chinesisch wurde. Sie haben die Briten überdauert, Sie könnten auch die Schweizer überdauern. Die sind lernwillig und haben Zeit. Und Zeit wiederum hat mit Uhren zu tun. Auch mit Chinesischen.
Schönen Tag noch……….
HIER finden sie einen guten Artikel über die moderne Firma Sea-Gull.