18 Jahre, oder gar 18 und ein halbes Jahr, so genau kann sich keiner mehr dran erinnern, wurde meine kleine Maus, bevor sie kraftlos, aber, wie ich hoffe, friedlich in meinen Armen einschlief. Das Ende nahte relativ schnell. Sie war zwar schon länger blind und hörte schlecht, aber daran hatte sie sich genau so gewöhnt wie ich. Ich sah und ich hörte für sie, und als die Beinchen schwächer wurden und der Rücken schmerzte, hab ich sie getragen. Wir verstanden und prächtig. Wir waren ja ein tolles Team, meine kleine Trixi und ich. Dabei wollte ich gar nie einen Hund. Aber nicht ich hatte mir diesen Hund ausgesucht. Der Hund suchte sich mich aus, und das kam so.
Irgend wann im Verlauf des Jahres 1998 oder Anfang 1999 kam meine Schwester auf Besuch, dessen Hauptzweck es war, einen kleinen Hund vorzustellen. Nicht, dass ein Hund für sie neu gewesen wäre. Sie hatte ja einen, und zwar ein goldiges, lockiges, schwarzes Chow Chow Weibchen namens Gina, oder um genau zu sein, Albine von der lockeren Wiese. Aber wer will schon “Komm her, Albine von der lockeren Wiese!” rufen und vor allem, wozu? Bei “Gina!” kam sie auch nur dann, wenn es ihr passte. Also Hunde waren nichts neues für sie. Aber für Tanja, ihrer älteren Tochter. Dieser gehörte der neue, kleine Hund. Wenn’s nach dem Mädchen ging, sollte es eigentlich eine Katze werden. “Mama, ich will eine Katze!” quengelte der kleine Quälgeist ständig herum. “Nein”, sagte ihre Mama, “Katze gibt’s keine. Aber du kannst einen Hund haben, der so groß ist wie eine Katze!” So wurde aus der Katze ein Hund.
Sie suchten den kleinen Hund nicht bei einem Züchter, sondern sondierten Zeitungsinserate. Das Internet war ja damals noch nicht so weit entwickelt wie heute. “Kleiner Hund nur in gute Familie abzugeben” oder so ähnlich lautete das Inserat, dass sie fanden und ein Foto war dabei. Es handelte sich um einen Yorki Mischling. Das weckte Interesse. Klein und knuffig. Noch dazu, zumal es sich um einen Hund aus der Pflege von Edith Klinger handelte, die damals eine eigenen Fernsehsendung hatte, in der allerlei alleinstehende Tiere, meist aus großer Not gerettet, ein neues Zuhause suchten. Also riefen sie an, bekamen einen Termin und fuhren hin. Nach allerlei Fragen rückten die Pfleger dann auch mit der Geschichte dieses Hundes heraus. Vermutlich noch kein Jahr alt, hatte der kleine Wauzi in den letzten sechs Monaten vier verschiedene Besitzer, die das kleine Tierchen allesamt wieder zurück brachten, weil das “Mistvieh” weder stubenrein war noch gehorchte. Ja, und gebissen hat der Kleine auch. Aus Angst, aber das wusste offenbar keiner. Trotz allem nahm meine Schwester diesen Hund mit und fuhr Heim. Und dann besuchte sie uns, um den neuen Hund vorzustellen.
Von diesem Besuch bemerkte ich anfangs nicht viel, denn ich wohne im Haus oben, meine Eltern unten. Dann ging die Tür des Wohnzimmers auf, und meine Schwester kam mit einem kleinen Hund herein. “Ach, ein kleiner Hund” war wohl ziemlich alles, was mir dazu einfiel. Ein paar Augenblicke später war meine Play Station kaputt. Der kleine Köter hatte mit seinen spitzen Zähnchen ins Steuerkabel gebissen und damit anscheinend einen Kurzschluss oder sowas in der Richtung verursacht. Dabei hatte Hundi großes Glück. Das Kabel daneben wäre Stromführend gewesen. 220V Wechselstrom! So lernte ich Trixi kennen.
Unsere nächste Begegnung war etwas persönlicherer Natur. Wieder war Sonja mit dem kleinen Hund zu Besuch, diesmal interessierte ich mich etwas mehr für ihn. Nicht, weil die Versicherung eine neue Play Station bezahlt hatte. Die alte war auch noch fast neu. Nein. Es war sowas wie Neugierde. Ich hatte Erfahrung mit Meerschweinchen und Katzen, eine ZIege hatte ich auch kurz einmal und manche meinen, ich hätte einen Vogel, aber einen Hund hatte ich nie. Vielleicht interessierte mich dieser Hund auch nur deshalb, weil er so klein war. Ich weiß es nicht mehr. Ich hob ihn hoch, streichelte ihn und stupste mit meiner Nase gegen seine. “Auaaaa!” Erschrocken setzte ich den Hund zu Boden. Er hatte mich in die Nase gebissen! Damit war ich nicht alleine, wie ich erfuhr. Auch Sonja und ihr Lebensgefährte wurde von Trixi in die Nase gebissen. Bei Gerhard war sogar die Nasenwand durchgebissen. Komischerweise war ich damals der Einzige, der drüber lachte. Aber einmal ehrlich, wie kann man den so blöd sein, mit seiner Nase den Zähnen eines fremden Hundes so nahe zu kommen? Diesem kleinen Hund waren wir damals alle fremd! Man stelle sich das einmal vor! Keiner von uns wusste genau, was dieses Tier bisher erlebt hatte. Wir wussten nur, dass er sehr schreckhaft war, was bedeutete, gut war es ihm wohl nicht gegangen. Und dann kommt so ein großer Lackl daher, hebt ihn auf und sein Schädel kommt mit diesem großen Zinken in der Mitte auf Tuchfühlung. Was würden sie als kleiner Hund tun? Da muß man doch vorsichtshalber zubeißen! Ich konnte das dem kleinen Wauzi ehrlich gesagt nicht übel nehmen. Es gibt aber auch welche, die suchen Schuld grundsätzlich immer bei anderen.
Dann vergingen Jahre, über die es aus meiner Sicht nicht viel zu erzählen gibt. Manchmal war Trixi zur Pflege da, meistens war sie aber weit weg. Nicht unbedingt weit für mich, aber weit für so einen kleinen Hund. Ich wusste, dass es ihn gibt, mehr aber nicht. Ein einziges Mal beschäftige ich mich in all den Jahren mit Trixi näher, das war am 12. August 2001. Sie war wieder einmal zur Pflege da und ich nahm sie, weil mir anscheinend nichts besseres einfiel, zu einer kleinen Wanderung mit. Ich schnappte mir ihre Leine, setzte sie ins Auto und fuhr nach Gresten zum Schwarzenberg, und dort stieg ich dann über Forst- und Almwege zum Kamm hoch und ging mit ihr bis zum Gipfelfels, den ich mit Trixi unterm Arm erstieg. Dort saßen wir beim Gipfelkreuz, ich rauchte eine Zigarette und bannte Landschaft und Hund auf Film. Und genau das ist der Grund, wieso ich heute noch ein Foto von Trixi aus dem Jahr 2001 hab. Das war, kommt mir heute fast vor, der erste kleine Wink des Schicksals. Ich hatte das Foto von einem Hund, der fast genau 12 Jahre später meiner wurde und um den ich heute weinte, weil ich ihn so liebte.
Wir verstanden uns auch an diesem Tag prächtig. Ich ließ sie im Almgebiet, ganz entgegen dem Rat meiner Schwester, ohne Leine laufen. Sie ging ein paar Schritte voraus, und als zuerst das Gras höher als der Hund wurde und das Gelände immer steiler, folgte sie ein paar Schritte hinter mir, immer grade so weit zurück, dass sie mich noch sehen konnte. An diesem Tag war sie ein guter, kleiner Bergkamerad. Dass wir beide fast auf den Tag genau 12 Jahre später zueinander finden und ein Herz und eine Seele werden, dass wäre mir nicht im Traum eingefallen, und ich meine sogar, nicht einmal der Hund hätte sich das in seinen, oder in ihren, kühnsten Träumen vorgestellt. Aber meistens kommt es erstens anders als man zweitens denkt. Oder so.
Die Jahre vergingen aber nicht nur für mich. Auch die Kinder meiner Schwester wurden älter, und damit auch Tanja, die Besitzerin von Trixi. Die Beiden waren unzertrennlich, bis das Leben unaufhaltsam seinen Lauf nahm. Grundschule, Mittelschule, Matura, Fachschule in Wien, Berufsausbildung, Arbeitsplatz und Wohnung in Wien. Das kleine Mädchen war eine Frau geworden und stand mit beiden Beinen mitten in ihrem jungen Leben. Zurück in Ybbs an der Donau blieb ein kleiner Hund, und weil auch dort das Leben nicht stehen blieb, Sabrina war ebenfalls schon aus der Schule, meine Schwester sowieso berufstätig, war das kleine Yorki Mädchen, ohne dass das jemand wollte, alleine angekommen. Na, nicht direkt alleine. Meistens kümmerte sich meine Mutter um Trixi, denn weil weder Sonja noch Kinder in Ybbs tagsüber daheim waren, kam der kleine Wauzi zu uns in Pflege. Es fehlte ihr eigentlich an nichts. Es gab Wasser und zu fressen, sie hatte den ganze Garten für sich alleine und konnte tun und lassen, was immer sie wollte. Nur ein richtiges Frauchen oder Herrchen, das hatte sie nicht. Und dann kam jener Tag im August 2013, an dem mir fast das Herz stehen blieb, und dessen Folgen mein Leben auf ungewöhnliche Art veränderte. Aber ganz anders, als ich ursprünglich dachte. Gott sei Dank.
Es war ein Tag so ungefähr mitten im August 2013 gegen 22:00 Uhr. Ich war grade von der Arbeit Heim gekommen, hatte die Haustür versperrt, die Jacke ausgezogen und wollte sie eben an die Garderobe hängen. Und wie es der Teufel will, schau ich so nebenbei zur offenen Küchentür hinein. Was ich sah, verschlug mir den Atem. Nein, es war nichts mit dem Hund. Es war schlimmer.
Ich sah die Beine meiner Mutter ausgestreckt am Boden liegen! Momentan stand ich wie angewurzelt da, dann aber begann mein Kopf zu arbeiten. “Ganz ruhig bleiben! Jetzt schaust du da einmal, was los ist, und egal was du siehst, du wirst das jetzt mit Fassung tragen!” befahl ich mir. In meinem Innersten sagte mir ein beklemmendes Gefühl, das ist der Tag, den die Meisten fürchten. Der Tag, an dem du deine Mutter verlierst.
“Hannes, bist du das?” hörte ich die Stimme meiner Mutter. Ich ließ die Jacke einfach fallen und war mit einem Sprung in der Küche. Da lag tatsächlich meine Mutter am Rücken, den Kopf auf ein Kissen gebettet, dass sie sich von einem Sessel gefischt hatte. “Bin ich froh, dass du da bist”, sagte sie. Ich kannte mich nicht wirklich aus, was da los war. Dann erfuhr ich es. Sie war ausgerutscht und gestürzt, wobei sie sich, so war sie sich den Schmerzen nach sicher, den Oberschenkelhals oder die Hüfte gebrochen hatte. Mein Vater lag schon im Bett, hört ohne Hörapparat praktisch nichts, schreien hatte daher, so Mama, gar keinen Sinn und kostet nur Kraft, und weil sie so lag, dass sie auf die Küchenuhr schauen konnte, wusste sie, in spätestens einer dreiviertel Stunde kommt der Sohn Heim, und dann wird alles wieder gut. Und so hatte sie sich den Polster vom Sessel, der gottlob in Reichweite lag, gezogen, damit sie bequemer liegt und wartete auf mich. Nachdem sie mir das erzählt hatte, musste ich mir insgeheim eingestehen, das war mit Abstand die brutalste Geschichte, die ich von einer Hausfrau je gehört hab. Punkto Härte und Kaltblütigkeit könnten sich da einige Männer eine große Scheibe abschneiden.
Ich verständigte die Rettung, die verständigte, weil die Schmerzen für einen Transport ohne Schmerzmittel nicht möglich war, den Notarzt, der sie mit einer gewaltigen Dosis ins Reich der Schmetterlinge schickte. Diese Dosis war nötig, weil die ersten zwei Spritzen überhaupt keine Wirkung zeigten. Dabei war nicht Mutter das Weichei, sondern die Leute der Rettung. Freilich entfleuchte meiner Mutter ein Schmerzensschrei, als sie versuchten, Mama auf die Trage zu hieven. Kein Wunder bei der Schwere der Verletzung. Sie meinte aber sofort, “kümmert euch nicht drum, wenn ich da drauf liege, ist der Schmerz ja wieder vorbei!” Das trauten sich die jungen Männer aber nicht und riefen den Notarzt. Ja, und dann war Mama weg, Papa, Bub und Hund waren alleine.
Für mich war das kein Problem, für Vater durfte es keines sein. Mama war nicht da, um für ihn zu kochen, also musste er seinen Hintern selber in Bewegung setzen. Der kann das, wenn er muß. Normal muß er aber nicht. Vater war Zeit seines Lebens (der ist auch schon 82) ein äußerst fleißiger Mann, aber ein Pascha, wenn er daheim ist. Wenn da ein Löffel zu Boden fällt, bleibt der liegen, bis er entweder verrostet ist oder bis ihn jemand anders aufgehoben hat, so einfach ist das. Oft schon hab ich mir gewünscht, der Herr Papa wäre einmal beim Militär gewesen. Nicht, weil Krieg spielen lustig wäre. Aber er wüsste, wo sich seine Kleidung befindet. Der kennt nicht einmal seinen eigenen Kleiderschrank. “Hab ich kein frisches Hemd? Frische Hosen? Wo sind Socken? Und die Schuhe?” Mama wird’s schon richten. Wozu hat man ein Weib?
Genau das war der Grund, wieso ich wusste, jetzt muß ich mich um den kleinen Hund kümmern. Bei Vater wäre er vermutlich, ich würde sogar sagen, mit Garantie, auch nicht verhungert, aber vermutlich wären für Hundi dürre Zeiten angebrochen. Für sich selber versteht er in Not zu sorgen, aber wenn der Hund weder kochen kann noch einkaufen geht, hat er Pech gehabt. Nun ja, dann bekam der kleine Wauzi eben von mir Wasser und Fressen. Ich bin ja nicht so. Außerdem würde das jetzt länger dauern, dass wussten wir schon am nächsten Tag. Oberschenkelhalsbruch und Beckenzertrümmerung, voraussichtliche Dauer bis zur Widerherstellung mehrere Monate. Dann nahm Trixi ihr Schicksal selber in die Pfoten.
Höchstens ein paar Tage waren seit dem Zwischenfall in der Küche vergangen. Ich glaub, nicht mehr als drei. Ich hatte frei, es war später Nachmittag, ich saß hier beim Computer und beschäftigte mich mit diesem Blog, da hörte ich etwas quietschen. Zuerst achtete ich gar nicht drauf, aber dieses Quietschen hörte nicht auf. Immer wieder war da irgendwo ein Quietschen zu hören. “Oder, wart einmal, das ist nicht irgendwo”, dachte ich, “das ist vor meiner Wohnzimmertür!” Etwas ratlos stand ich auf und öffnete die Tür. Was, bitte, sollte da vor meiner Tür quietschen?
Es war Trixi. In all den rund vierzehneinhalb Jahren, in denen sie im weiteren Sinne ja auch zur Familie hier gehörte, war sie noch kein einziges Mal auf die Idee gekommen, die Treppen zu mir hoch zu steigen. Kein einziges Mal! Chester, der andere kleine Hund, der öfters, so wie auch jetzt grade wieder, zur Pflege hier ist, der kam und kommt immer wieder zu mir hoch, kratzt an der Tür, schnüffelt ein wenig herum, wenn ich öffne, und verschwindet wieder. Trixi tat das nie. Seit unserer gemeinsamen Besteigung des Schwarzenberges vor zig Jahren hatten wir nicht mehr viel miteinander zu tun. Nicht einmal höflichkeitshalber. Wenn sie da war, war sie da, wenn nicht, dann nicht. So war zumindest meine Sicht der Dinge. Vielleicht hab ich sie sogar dann und wenn gestreichelt, aber ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Intensiv können meine Gefühle für sie nicht gewesen sein, sonst könnte ich mich dran erinnern. Die Tour zum Schwarzenberg, die war damals aber schön, und die hab ich nicht vergessen. Hundi offenbar auch nicht.
Ich öffnete die Tür, sie kam herein, schnüffelte ein wenig herum, aber statt wieder zu gehen, sprang sie im Schlafzimmer ins Bett und schlief ein. Und damit könnte ich unter dieser Hundegeschichte jetzt praktisch den Schlußstrich ziehen, denn seit damals hat Trixi diese Räumlichkeiten nie wieder, im sprichwörtlichem Sinne zumindest, verlassen. Sie hat sich an diesem Tag einen neuen Herrn ausgesucht, und sie hat einen gefunden, der nicht wusste, wie schön es sein kann, einen Hund zu haben. Ich meine, es kann natürlich auch schön sein, eine Frau zu haben. Keine Frage. Nur, mit dem Hund muß ich keine Sorgen teilen, die ich ohne ihn gar nicht hätte. Mit einer Frau schon. Es folgten drei der schönsten Jahre meines Lebens.
Aber das ist eine andere Geschichte
Bis später……………