Wenn der Postmann drei mal klingelt, und keiner macht auf. Ein Zettel lag im Briefkasten. Post aus Moskau. Also fuhr ich am Nachmittag zur Poststelle, und holte das Paket ab. Bevor ich es ausgehändigt bekam, war noch eine Kleinigkeit an Zoll zu bezahlen. Ungefähr den Gegenwert einer schönen Poljot Weckeruhr machte das aus. Dann hielt ich endlich das Paket in der Hand, auf dass ich mich schon so gefreut hatte. Eine funkelnagelneue Raketa sollte in diesem Sack sein. Der Größe und dem Gewicht nach hätte das aber auch ein Paar Schuhe sein können. Kleine Schuhe natürlich. “Was haben die da eingepackt?”, fragte ich mich. Nach all den Daten, die mir vor lagen, mußte es die Uhr sein, auf die ich wartete. Nur der Absender irritierte mich etwas. Moskau. Raketa ist aus St.Petersburg. Vielleicht gar Post von Herrn Putin? „Lieber Benzin. Wie du weißt, die Lage in Europa nimmt ständig zu, darum möchte ich dir diese Uhr……damit du weißt, welche Stunde es…..aber ihr schafft das schon“. “Na, schauen wir einmal”, dachte ich, und fuhr Heim. Ich hatte vergessen, dass ich im Raketa Shop in Moskau eingekauft hatte. Ich werd alt.
Weil’s grade nicht regnete, legte ich den Sack zum Baumstumpf in den Garten, den ich oft als Fototisch benutze, holte die Kamera mit dem Stativ und steckte mir ein Taschenmesser ein. Dann baute ich das Zeug im Garten auf und begann Stück für Stück auszupacken. Erst da fiel mir auf, der Baumstumpf war im Schatten. Nur am Vormittag erreicht ihn die Sonne. Das hatte ich glatt in meiner Freude übersehen. Aber besser als im Wohnzimmer. Erstens frische Luft, zweitens kann ich den Baumstumpf besser als einen Tisch verwenden, und drittens, Kunstlicht ist auch nicht viel besser als Schatten. Studio hab ich keines.
Aus dem Sack holte ich eine Schachtel, in der sich eine ziemlich feste Kugel aus luftgepolstertem Kunststoff befand, in der sich wieder eine Schachtel befand. Nein, in dieser Schachtel befand sich keine Schachtel, in der sich noch eine Schachtel befand. Sowas gibts nur bei Puppen. Bei der Schachtel, die ich aus der Kunststoffkugel holte, war ich schon ganz nah am Ziel, denn das war die unmittelbare Verpackung der Uhr. Das war ihr Nest. Vorsichtig zog ich die dekorative Umhüllung herunter, holte Luft und öffnete das Ding.
“Ja! Da ist sie, meine neue Raketa”, dachte ich. Auf ein unglaublich dickes, rotes, kuschelweiches Polster war sie geschnallt. Sie ist sehr schön gefertigt. Makellos. Genau so hatte ich sie mir vorgestellt. Noch im Garten zog ich sie auf. Seidenweich geht das. Vor kurzem hab ich eine Uhr aufgezogen, das hörte und fühle sich an wie das Aufziehen eines alten Wecker. Gar kein Vergleich. Ja, diese Uhr muß man aufziehen. Sie ist keine Automatik. In ihr werkelt das Handaufzugkaliber 2609HA, wie bei den BIG ZERO aus der Sowjetzeit. Diese Art von Uhr braucht die Fürsorge ihres Besitzers genau so, um am Leben zu bleiben, wie ein Tamagotchi. Das Aufziehen einer Uhr, finde ich, ist allerdings eine um einiges intelligentere Tätigkeit.
Design ist Geschmackssache. Über Geschmack lässt sich streiten. Was aber keinen Sinn macht. Wir wollen eh nicht alle das Gleiche haben. Mir gefällt das Aussehen dieser Uhr einfach, und ich könnte gar nicht sagen, warum eigentlich. Ich glaub, das muß man gar nicht begründen können. Auch wenn’s vielleicht ein blöder Vergleich ist, die BIG ZERO gehört irgendwie zu Raketa, wie der Berlinetta Boxer zu Ferrari oder der 911 zu Porsche. Das waren einfach gute Ideen und ein sehr eigenständiges Design. Sowas mag ich.
Auch das Stahlband kann sich sehen lassen. Man kann sie auch mit Lederband kaufen. Kostet das selbe. Dieses Stahlband fühlt sich sehr hochwertig an. Die Faltschließe hat keinen Sicherheitsbügel, dafür seitlich zwei kleine Drücker zum Entriegeln. Scheint recht sicher zu sein. Insgesamt war mir dieses Uhrband allerdings etwas zu lang. Nicht jeder hat dicke Arme, drum kann man es kürzen. Also mit der neuen Uhr ab in den Keller, ein Stück Pappe auf die Werkbank gelegt und mit einem dünnen, spitzen Werkzeug links und rechts der Schließe ein Glied entfernt, was recht einfach geht. Ein mulmiges Gefühl ist es trotzdem. “Mach jetzt was falsch, ruiniere das Ding, und ich dreh durch!” dachte ich. Ist aber alles gut gegangen. Nun passt sie perfekt. Etwas locker, nicht zu fest. So, wie ich das mag. Ach ja, eines ist mir auch gleich aufgefallen. Eine Vostok ist – meistens – laut wie ein Traktor. Diese Raketa ist leise. Raketa sind generell nicht so laut wie Vostok. Diese scheint gut isoliert zu sein. Die Grünen werden sich freuen. Keine Lärmemission. Fast schade. Ich mag den Klang einer mechanischen Uhr sehr gerne. Das lebt.
Bild Mitte: Raketa neu aus St.Petersburg und Raketa alt aus Leningrad
Wieso hab ich mir eine neue BIG ZERO gekauft, wo ich doch eh schon drei aus Sowjetzeiten hab? Ganz einfach. Ich hab inzwischen eine nette Anzahl Uhren von Raketa. Allesamt recht hübsch und sehr zuverlässig. Und recht genau. Manche außergewöhnlich genau. Alle tragen sich sehr angenehm. Ich hab diese Dinger einfach ins Herz geschlossen. Raketa stand wie Vostok nach der Auflösung der Sowjetunion praktisch vor dem Ende. Vostok hat es mit Müh und Not, und staatlichen Aufträgen, grade noch geschafft, und Raketa auf Initiative eines enthusiastischen Ausländers, der in Russland lebt, und der nicht nur am schnellen Reibach interessiert war, ebenfalls. Während man bei Vostok nicht so genau weiß, wo die Reise hin geht, scheint der Eigner von Raketa das Geschäft gut zu verstehen und die richtigen Leute um sich zu scharen. Er konzentriert sich hauptsächlich auf den russischen Markt, aber nicht auf das Billigsegment. Offenbar ist das auch die einzige, wirkliche Chance, zu überleben. Hohe Qualität zu einem Preis, der der Firma das Überleben auf Dauer sichert. Große Mengen und billig kann China besser. Dieser Spagat ist heute sicher nicht ganz einfach, der Konkurrenzkampf hart. Raketa kann heute wieder eher auf selbstbewusstere Russen hoffen, die auch eigene Produkte schätzen, und auch auf eine stetig wachsende Fangemeinde außerhalb Russlands zurückgreifen. Ich würde es sehr bedauern, sollte es trotz allem plötzlich heißen, bei Raketa sind die Lichter ausgegangen. Raketa ist noch eine echte Manufaktur, die alles selber herstellen kann. Wieso nicht eine Uhr aus Russland? Ich hab jetzt neben meinen alten Sowjetskie aus Leningrad auch eine hübsche, neue Russin aus St.Petersburg. Das gefällt mir.
Schönen Tag noch.
Zu Raketa Big Zero
Zu Raketa Kaliber 2602/03
Zu Raketa Kaliber 2609
Zu Raketa 2610, 2209, Automatik und anderen Besonderheiten
Zu Raketa Baltika 2609 Kleinsammlung – Sixpack