1949 wurden in Peterhof bei Leningrad, heute wieder St.Petersburg, die ersten Armbanduhren erzeugt und verkauft. Sie trugen die Namen Pobeda ( победа – Sieg) und Swesda ( звезда – Stern). Pobeda bezog sich natürlich auf den Sieg gegen Nazideutschland, der Millionen Opfer gefordert hatte. Diese ersten Uhren wurden aus angelieferten Einzelteilen gefertigt, die Uhrwerke stammten aus Moskau. Später trugen Uhren aus Peterhof auch noch die Namen Baltika, Leningrad, Majak, Newa, Swet und Rossia, da wurde schon alles, inklusive Uhrwerk, im eigenen Haus produziert. Was am Anfang reine Handarbeit war, jeder Arbeiter fertigte eine ganze Uhr, wurde ab 1954 zur Fließbandarbeit, weil sonst das hoch gesteckte Plansoll von 20 000 Uhren pro Jahr nicht erfüllbar gewesen wäre.
Gegründet wurde der Betrieb 1721 von Peter dem Großen als eine Art Steinmetz Betrieb zur Bearbeitung von Edelsteinen und Halbedelsteinen. Dieser Betrieb war praktisch in alle Bauvorhaben großen Stieles, in denen Marmor und anderes hochwertige Gestein eine Rolle spielte, in und um St.Petersburg oder Moskau eingebunden. Schmuck und Kunstwerke aus Peterhof sind heute in Museen in der ganzen Welt ausgestellt. 1932 folgte die Umbenennung in Первый государственный завод точных технических камней oder TTK-1, 1. Staatliche Fabrik zur Herstellung von technischen Präzisionssteinen (oder so in der Richtung). Es war dies auch die erste Fabrik ihrer Art und der Grundstein für die spätere Uhrenherstellung.
Oben und unten: Raketa 2603 mit vergoldetem Gehäuse aus den 60er Jahren.
1961 wurde die Firma zu Ehren des ersten Weltraumfluges von Juri Gagarin in ракета, also Rakete, umbenannt. Seit damals laufen in Peterhof nur mehr Uhren mit diesem Namen von den Bändern. Raketa war nicht nur die älteste Uhrenfabrik der Sowjetunion, sondern auch die einzige, die absolut unabhängig von Zulieferern war. Alleine Raketa war in der Lage, auch die Lagersteine für die Uhren selbst herzustellen, Peter dem Großen sei Dank. In ihrer Blütezeit beschäftigte diese Fabrik rund 8000 Menschen, die im Jahr rund 4.5 Millionen Uhren herstellten.
Nach der Auflösung der Sowjetunion stand die Uhrenfabrik praktisch vor dem Ende. Es gab Interessenten, vor allem ausländische Interessenten, die allerdings keinerlei Interesse an einer Uhrenproduktion oder an der Schaffung von Arbeitsplätzen hatten, sondern sich am Betriebsgelände eine goldene Nase zu verdienen. Irgendwie und schlussendlich auch doch mit Hilfe ausländischer Investoren schaffte es wenigstens ein kleiner Teil der ehemaligen Uhrenfabrik bis zum heutigen Tag, Uhren sogar mit eigenen Kalibern zu erzeugen. Auch ehemalige Mitarbeiter der Firma Rolex sollen fest mitmischen und ihr Fachwissen einbringen. Wie weit das langfristig hilft, Raketa am Leben zu erhalten, wird die Zukunft zeigen. Ich kann ihnen nur viel Glück und alles Gute wünschen.
Ganz langsam entwickelte sich im Laufe meiner, na sagen wir einmal Sammelleidenschaft für sowjetische Uhren, eine ganz besondere Liebe zu den Uhren aus Petrodvorets. Ich kann nicht sagen, warum. Ich könnte auch nicht sagen, warum ich mich zu Motorrädern der Firma Yamaha hingezogen fühle. Obwohl die Konkurrenz ebenfalls sehr gute Motorräder herstellt, finde ich an Motorrädern von Yamaha etwas besonderes, was der Konkurrenz fehlt. Die Stimmgabeln alleine sind es bestimmt nicht. Da ist noch irgend etwas. Motorräder haben nicht viel mit Vernunft zu tun. Aber mit Gefühl. Mit Emotionen.
Bei Uhren ist das ziemlich genau so. Auch bei Uhren aus der Sowjetunion. Raketa haben etwas an sich, was Uhren anderer Herstellern fehlt. Es muss etwas sehr persönliches sein, denn andere bevorzugen Poljot, Slava, Vostok oder was weiß ich. An der Firmenphilosophie kann es nicht gelegen sein. Die sowjetischen Hersteller standen untereinander nicht in Konkurrenz. Die hatten keine Philosophie. Die haben ihren Fünfjahresplan erfüllt, das war alles. Eigene, betriebsinterne Vorstellungen oder Entscheidungen waren undenkbar. Es war auch nicht ungewöhnlich, dass ein und die selbe Uhr, Majak und Pobeda zum Beispiel, von verschiedenen Herstellern produziert wurde. Nur der Firmenstempel am Uhrwerk wies auf die unterschiedlichen Fabrikationsorte hin. Teile waren untereinander austauschbar.
Hier zwei Uhren mit dem Markennamen Svet. Die Gehäuse bzw. Zifferblätter sind authentisch, die Werke mit großer Wahrscheinlichkeit nicht.
Links sehen wir zwar die Bezeichnung 2603, es fehlt aber die Stoßsicherung. Recht handelt sich um ein authentisches Werk 2602. Beide Werke tragen den Stempel von Raketa und nicht ПЧЗ, was besonders bei der linken Uhr verwunderlich ist, weil am Zifferblatt richtigerweise die alte Bezeichnung steht, also ПЧЗ. Diese Werke gehören offenbar nicht in diese Gehäuse. Ob sie aufgrund von Altersschwäche ausgetauscht wurde, weiß ich nicht. Eine bewusste Täuschung aus Profitgier schließe ich aus. Diese Uhren sind zwar recht gut erhalten und schön anzuschauen, sie waren aber nicht teuer.
НЕВА ЧН-349К (2603 mit Stoßsicherung) von 1960 komplett Original. Es gibt unterschiedliche Arten dieser Uhr, die sich oberflächlich betrachtet nicht unterscheiden. Am leichtesten unterscheidet man sie anhand der Anzahl der konzentrischen Kreise am Ziffernblatt. Das hier gezeigte Modell besitzt derer sieben Stück. Original im Katalog von 1960 abgebildet und beschrieben. Der einztige Glanz des Ziffernblattes hat wohl aufgrund von UV-Einstrahlung etwas gelitten, ansonsten ist es hervorragend erhalten. Die Krone scheint auf den ersten Blick etwas groß und unpassend, ist aber im Katalog genau die gleiche Knolle, ergo Original.
Bevor die Peterhofer Uhrenfabrik in Raketa umbenannt wurde, waren die Uhrwerke, manchmal auch die Zifferblätter, mit dem 1954 erhaltenen Firmennamen Петродворцовый часовой завод oder kurz ПЧЗ gekennzeichnet, Petrodvorets Uhrenfabrik. Dieser Stempel am Uhrwerk ist ein – fast – sicheres Zeichen, dass es sich um ein Uhrwerk aus der Zeit vor 1961 handelt. Uhrwerke produziert nach 1961 tragen einen anderen, leicht von den restlichen Herstellern unterscheidbaren Firmenstempel, der eine Rakete symbolisiert, wie oben auf den Werksbildern zu sehen ist. Fast sicher sagte ich, weil man möglicherweise Einzelteile alter und neuerer Produktion untereinander austauschen kann. Dieser Austausch von Teilen, alt gegen neu, vielleicht sogar umgekehrt, war in der Sowjetunion durchaus Praxis und diente dazu, das Uhrwerk am laufen zu halten. Damals dachte sich niemand was dabei. Uhren waren teuer, zum Reparieren nahm man das, was da war. Heute schaut das meist anders aus. Solche Manipulationen an einzelnen Bauteilen dienen oft dazu, ein höheres Alter vorzutäuschen, den Käufer in die Irre zu führen und einen höheren Preis zu erzielen!
Bei diesen Uhren handelt es sich um eine Raketa 2602 ohne Stoßsicherung (links außen) sowie zwei 2603 mit Stoßsicherung (rechts neben dem Uhrwerk)
Die Zifferblätter aller drei Uhren wurden restauriert. Das Besondere an diesen Uhren ist die gelb/grüne Leuchtfarbe, die bei der Überarbeitung teilweise für die Markierungen oder Beschriftung verwendet wurde. Fällt Licht direkt aufs Zifferblatt, leuchten die Markierungen und/oder Ziffern wunderschön. Mir war bewusst, dass sich diese Uhren nicht im Originalzustand befinden, aber ich fand sie einfach hinreißend, was für mich Kaufgrund genug war. Da ich mich nicht als Sammler empfinde, müssen die Uhren nicht unbedingt 100% Original sein. Gefallen müssen sie mir. Wobei ich allerdings keine Freude habe, wenn man mich reinlegen will oder, was vor kommt, dies auch schafft. Eine ehrlich überarbeitete Uhr ist mir lieber als ein angeblich originaler Bastel Wastel.
Was bedeuten die Bezeichnungen 2602 und 2603? Sie bedeuten, dass der Durchmesser des Uhrwerkes 26mm beträgt, eine dezentrale kleine Sekunde besitzt – in diesen Fällen ist der Sekundenzeiger über der Sechs angeordnet – und das das Uhrwerk ohne oder mit einer Stoßsicherung ausgestattet ist. 02 ist ohne, 03 mit Stoßsicherung. Zu anderen Bezeichnungen später mehr, wenn ich die dazugehörigen Uhren vorstelle.
Komplett originale vergoldete und verchromte Version Kaliber 2603 mit Stoßsicherung.
Uhren ohne Stoßsicherung sind sehr empfindliche Plänzchen! Uhren sind ja generell empfindlich gegen Schläge und Stöße, aber diese ganz besonders. Es gibt auch Uhrwerke mit zumindest einer Stoßsicherung, es gibt aber auch welche mit mehreren. Je aufwendiger ein Uhrwerk beziehungsweise dessen Wellen und Lager geschützt sind, desto sicherer halten diese Erschütterungen welcher Art auch immer stand. Wer je eine Uhr geöffnet hat, um sich das Werk anzuschauen, kann sich vorstellen, dass diese kleinen Bauteilchen großen Belastungen sicher nicht lange standhalten können. Zu fein und zerbrechlich ist diese Mechanik. Durch die dezentrale Sekunde sind diese Werke und damit die Uhren sehr flach gebaut und tragen sich wunderbar!
Und weil sie so schön sind, hier nochmals zwei Versionen der Kaliber 2603 in Chrom und vergoldet .
Diese Uhren sind nicht wasserdicht! Mit nicht wasserdicht meine ich nicht nur, dass da nirgends eine Dichtung drinnen ist, die die Uhr vor dem Eindringen von Wasser schützt. Auch Luftfeuchtigkeit hat ungehindert Zutritt. Es gab für diese Uhren nie Dichtungen. Bei feuchtem Wetter kann ohne weiteres passieren, dass das Uhrglas beschlägt. Dafür war Raketa aber auch, vielleicht ist das ein Trost, immer für robuste und zuverlässige Uhren bekannt, die den meisten Unbilden eines Uhrenlebens, etwas Rücksicht vorausgesetzt, trotzen können. Zu ihrer aktuellen Zeit trug man sie bestimmt auch bei jedem Wetter. Man hatte ja nichts anderes. Heute ist es nicht mehr notwendig, so eine Uhr allen Widerwärtigkeiten des Lebens auszusetzen. Dazu sind sie zu schade, finde ich, denn sie sind nicht nur recht hübsch und sie tragen sich nicht nur recht angenehm, sie gehen auch recht genau. Gangabweichungen unter einer Minute am Tag sind kein Problem. Für den normalen Alltag reicht das allemal.
Raketa Neva
Die Newa, kyrillisch Нева geschrieben, ist ein Fluß, der durch St.Petersburg führt. Нева ist auch der Name einer Uhr, die in Peterhof gebaut wurde. Eine dieser Uhren will ich hier zeigen. Es handelt sich dabei um eine nach heutigen Maßstäben relativ kleine Uhr mit stoßgesichertem Uhrwerk und dezentraler, kleiner Sekunde. Die Federstegbreite beträgt 16mm. An und für sich wäre die Uhrzeit nicht ganz einfach abzulesen, weil die Zahlen am Zifferblatt etwas blass sind und sich trotz ihrer gelbgoldenen Farbe nicht mehr wirklich deutlich vom schwarzen Ziffernblatt abheben, die vergoldeten und wunderschön verschnörkelten Zeiger machen die Sache dann aber doch wieder relativ einfach. Der winzige, ebenfalls vergoldete Sekundenzeiger spielt aber wirklich nur eine untergeordnete Rolle. Die Aufzugskrone, es dürfte sich dabei nach meinen Nachforschungen in der Tat noch um die originale Krone handeln, ist im Verhältnis zur Uhr ungewöhnlich groß und läßt sich sehr einfach bedienen, das mit Genfer Streifen verzierte Uhrwerk trägt noch die Bezeichnung ПЧЗ – Uhrenfabrik Petrodvoreds – und läuft trotz seines Alters sehr genau. Ich hab wirklich eine große Freude mit dieser Uhr.
МАЯК» 221ЧН Model ЧН-1117К
Es hat lange gedauert, bis ich diese Mayak (Leuchtturm) in vergoldeter Ausführung und in schönem Zustand fand. Sie wird in einem sowjetischen Uhrenkatalog von 1960 gezeigt und ist absolut Original. Das Model 20 Mikron vergoldet trägt den Produktcode ЧН-1117К, die verchromte Ausführung ЧН-1116К. Sie hat nur einen Fehler. Sie ist viel zu schön zum Tragen.
Das war’s für heute.
Zu Raketa Kaliber 2609
Zu Raketa Big Zero
Zu Raketa Big Zero Classic N019