21. Dezember. Drei Tage vor Weihnachten.
Es schneite, dass man glauben konnte, der jüngste Tag wäre angebrochen. Ich hatte eine Kamera eingepackt und war zur Most-Höhenstraße unterwegs, um eventuell ein paar schöne Winterszenen festzuhalten. Stattdessen kämpfte ich die meiste Zeit gegen durchdrehende, rutschende Räder und der Gefahr, versehendlich querfeldein in die nächste Ortschaft zu fahren. Man konnte im dichten Schneetreiben und Nebel kaum mehr die Scheibenwischer vor der Windschutzscheibe erkennen, geschweige den die Straße. Nur die schemenhaft im diffusen Gewabbel erkennbaren Begrenzungspflöcke verhinderten ein Desaster. „Heuer wird´s wohl nichts mit einer Weihnachtsrundfahrt“, dachte ich traurig. Dafür schienen weiße Weihnachten garantiert. Dann kam genau so schnell wie der Schnee auch wieder das Tauwetter.
24. Dezember
Heiliger Abend. Oder eigentlich heiliger Morgen, um genau zu sein, denn es war gegen 9:00 Uhr. Der Blick aus dem Fenster verhieß wieder nichts gutes. Trüb und nebelig. Der festliche Tag kündigte sich also auf gut deutsch sehr unwirtlich an. Jedoch sagt das 11. Gebot und die Erfahrung, „Du sollst dich nicht täuschen!“
In der Winterzeit ist es weiter oben meistens um einiges schöner als unten. Wenn man im Herbst vor lauter Nebel tagelang kaum aus dem Fenster sieht, dann heißt das gar nichts. Wie oft war das schon der Fall, wie oft dachten die Leute im Ort, „was für ein grauenhafter Tag!“ Und wie oft war wenige Kilometer weiter, am 200m höher gelegenen Hochkogel bei Neuhofen Kaiserwetter? Oft genug fuhr ich da nur sehr widerwillig wieder hinunter, in die trübe Suppe hinein dort hin, wo mein Zuhause ist.
Also eine Kamera eingepackt, und ab zur Sonntagberger Höhenstraße. „Ich fahr Wetter schauen“, verabschiedete ich mich.
Mit wild durchdrehenden Vorderrädern schlich ich von dannen. Die Straße war so glatt, dass man sich auf einem Eislaufplatz wähnte. Blankes Eis! Undenkbar, bei diesen Verhältnissen Motorradfahren zu wollen. Müsste man fahren, weil es um Leib und Leben ginge, würde es wohl auch irgendwie gehen müssen. Musste es aber nicht. Es bestand weder für Leib, noch für Leben Gefahr, ergo auch nicht für´s Motorrad.
Bei der Auffahrt auf den Sonntagberg wurde ich allerdings stutzig. Dort, wo der Nebel aufhörte, tat sich eine andere Welt auf. Die Straße war trocken, die Sonnenstrahlen wärmten die Luft, es war direkt frühlinghaft. Je höher ich kam, desto wärmer wurde es, desto unruhiger wurde ich. „Wenn ich irgendwie das Eis vorm Haus überwinde, ohne zu stürzen, könnte man hier wunderbar Motorrad fahren“, dachte ich und stellte am Parkplatz unterhalb der Kirche den Wagen ab. Unbeschreiblich, wie warm es hier war. Unbeschreiblich auch die Fernsicht in eine märchenhafte Landschaft. Dort, wo kein Nebel die Gegend verhüllte, schimmerte von ganz unten Eis und Schnee kalt herauf, weiter oben leuchteten die Kuppen und Gipfel der Hügel in sattem, frischem Grün. Was für ein Gegensatz!
„Ich muß Heim! Ich muß sofort Heim und das Motorrad holen!“ durchfuhr es mich mit wilder Entschlossenheit. Das Herz schlug bis zum Hals. Es gab nicht den geringsten Zweifel. Irgendwie würde ich das vereiste Stück durch den Wald zur Hauptstraße ohne Sturz schaffen, und dann konnte mich niemand und nichts in der Welt mehr von einer herrlichen Weihnachtsfahrt aufhalten.
Meiner blauen Elise war sichtlich kalt gewesen. Zäh sprang sie an, um sich langsam mit etwas unrhytmischem Lauf zu erwärmen. Sie mag den Winter offenbar ebenso wenig wie ich. Wobei zu sagen wäre, ich hasse diese Jahreszeit keineswegs. Nur kann man selten Motorrad fahren, und das fehlt mir dann so sehr.
Ich brauchte aber gar keine Angst vor dem Eis haben. In der letzten halben Stunde war es um so viel wärmer geworden, dass kein einziges Fleckchen mehr übrig geblieben war. Vorsicht war aber trotzdem geboten. Ein einziger, handtellergroßer Eisfleck konnte die Fahrt schmerz- und schadhaft beenden. Vor allem im Schatten waren die Straßen trotz Salzstreuung nur mit besonderer Vorsicht zu genießen.
Steusalz. Davon graute mir. Salz ist ja nicht gleich Salz. Vor allem kommt´s drauf an, wo es sich befindet. Am Frühstücks-Ei ist es wunderbar schmackhaft, aber am Motorrad? Mit Schrecken denke ich an die spätherbstliche Fahrt am 5. Dezember 2006 zurück. Die Elise war erst zwei Jahre alt. Ein paar Tage nach dieser Fahrt schaute es fast so aus, als würde sie ihr kurzes Leben als matt rötlicher Rostklumpen am Schrottplatz beenden. Man hätte sie direkt mit einem hundert Jahre alten Scheunenfund verwechseln können, so wurde sie vom Streusalz zugerichtet. Ich Narr hatte vergessen, sie sofort nach der Rückkehr zu waschen! Mit einer fast panisch anmutenden, eine Woche dauernden, täglichen Putz- und Schrühöl Aktion war ich wieder Herr über den Rost geworden und konnte sie retten. Nur die Aluminium Teile des Motorblocks und der Auspuff zeigen noch leichte Spuren des Kampfes gegen den Rostfraß, der sich auf allen metallischen Teilen ausgebreitet hatte. Es war erschreckend, was Salz in kürzester Zeit an einem neuwertigem Motorrad anrichten konnte.
Zurück am Sonntagberg, diesmal auf zwei Rädern, parkte ich am Vorhof der Basilika und steckte mir genüsslich eine Zigarette an. Je, das war wieder so eine Gelegenheit, wo ich rauche, und ich hab es genossen. Ein paar Fotos geschossen, dann trieb mich eine innere Unruhe weiter. Ich wollte fahren, nichts als fahren. Also rüber nach St. Leonhard am Walde, runter nach Waidhofen an der Ybbs, wo ich beim Schloss nochmals kurz rastete, dann raus nach Böhlerwerk und rauf auf die Wieser Höhe, von der ich links genau in die Straße einbog, in der ich mich noch vor wenigen Tagen im dichten Nebel und Schneetreiben beinahe in die Prärie verirrt hätte. Nur war es diesmal nicht eisig kalt und duster, sondern unterm strahlend blauen Himmel sommerlich warm.
Ich folgte der Höhenstraße bis St.Michael am Bruckbach, wo mir kurz vorher ein freudig winkender Motorradfahrer entgegen kam, hielt dort nochmals kurz Rast und zog dann Behamberg und Steyr entgegen. Nach dem großartigen Ausblick von Bruckbach ins Donautal hatte ich plötzlich einen Plan im Kopf. Ich wollte, wie vor drei Jahren, nach St.Valentin zur Weihnachtskrippe fahren. Und genau das tat ich dann auch.
Während ich die Elise zur Krippe schob und mir eine Zigarette anzündete, öffnete sich die Krichentür und eine Familie trat mit ihren Kindern ins Freie. Die Augen der Kinder leuchteten beim Anblick der Krippe, die Augen des Vaters leuchteten beim Anblick einer blauen Yamaha XJR. „Schau, ein Motorradfahrer“, flüsterte er verstohlen, aber etwas zu laut zu seiner Frau. Ich grinste, erwiderte ihren Gruß mit einem Nicken, setzte mich wieder auf meine Elise und zog weiter, der Heimat entgegen.
In Haag folgte ich einer inneren Stimme und fuhr zur Kirche rauf. Komisch, ich war dort noch nie gewesen, obwohl ich weiß Gott wie oft durchgefahren war und diese Kirche nicht weit ab der Hauptstraße liegt. Ich hab´s ja nicht so mit der Kirche, beziehungsweise mit der Organisation, die sich Kirche nennt. Ich würde mich nicht als gläubiger Mensch bezeichnen, störe mich aber nicht am Glauben anderer, egal, wie sie ihren Glauben oder Gott nennen. Man möge bitte auch mir diese Toleranz entgegen bringen. Jeder soll nach seiner Fasson, nach seinem Glauben leben, aber andere in Ruhe lassen.
Gotteshäuser, als historische Bauwerke betrachtet, gefallen mir jedoch. Vielleicht war es einfach Neugier, die mich veranlasste, zur Kirche hoch zu fahren? Ich weiß es nicht. Bereut hab ich es jedenfalls nicht. Die kleine Krippe vor der Sparkasse war recht lieblich anzuschauen. Wobei ich mich (vielleicht nicht ganz Ernst gemeint) fragte, ob das alte Tradition des Geldinstitutes war, oder ob auch diese Bank, durch Krisen und Veruntreuungen gebeutelt, die Nähe zum Herrn sucht und sicherheitshalber eine Krippe aufstellte? Man weiß ja nie, nicht wahr?
Eventuell gibt es ihn ja doch, den großen Gasförmigen? Und wenn´s ihn gibt, und er fragt am Tag des jüngsten Gerichts „Sagt an, was habt ihr Halunken damals mit dem Geld der kleinen, ehrlichen Sparer gemacht?“, dann könnten sie vielleicht mit etwas ruhigerem Gewissen, wenn auch zerknirscht antworten, „Herr, du hast Recht. Wir waren Halunken. Aber haben wir nicht auch deinem Sohn zum Gedenken eine Krippe aufstellen lassen? Vergiss das nicht!“ Möglicherweise nützt´s was? Mal sehen.
Mir persönlich bereitete der Adventkalender große Freude. Holzhäuschen mit nummerierten Toren, Türen und Fenster waren am Rande des Platzes aufgestellt, und für jeden Tag war etwas geöffnet worden. Es erinnerte mich an meine schöne Kindheit und daran, wie ich dem täglichen Öffnen eines Fensterchens meines Adventkalenders entgegen fieberte. Damals bereitete mir meine Mutter diese Freude. In Haag bereiten offenbar örtliche Betriebe den Kindern und Einwohner diese Freude. Zumindest schließe ich das aus den Widmungen bei jedem Fenster. Was für eine schöne Idee, die wie ich sah, von kleinen und großen Besuchern gerne angenommen wird.
Zu guter Letzt begegnete mir noch unweit von Daheim der Hans, der zu Fuß zu einem weihnachtlichen Rundgang aufgebrochen war. „Servus Hans. Wie geht´s? Frohe Weihnachten“, begrüßten wir uns. Kurz erwähnte ich, wo ich mit der blauen Elise herumgefahren war, dann meinte er, „fahr doch rauf zum Kirchenwirt nach Allhartsberg. Vor dem Haus steht ein Holzstock, in den eine Krippe reingeschnitzt ist. Da müsste jetzt genau die Sonne drauf scheinen. Mach ein Foto und schick es mir per Mail“.
So fuhr ich auch noch nach Allhartsberg, und genau wie der Bachler Hans gesagt hatte, schien die Sonne auf die Krippe im Holzstock. Ein paar Fotos, eine Zigarette, dann fuhr ich Heim.